Kurze Geschichte der „Berliner Mauerkunst“

Nur wenige Tage nach dem 13. August 1961, an dem die DDR damit begonnen hatte, die Berliner Sektorengrenzen in eine Staatsgrenze zu verwandeln, entstand am Potsdamer Platz das erste Teilstück der Berliner Mauer.

Im Laufe der Jahre sollten noch viele weitere Hohlblocksteine zu einer Mauer aufgeschichtet werden, bis ganz Berlin von einer Mauer durchzogen war. Die erste Mauer war nur ca. 1,80 bis 2 Meter hoch, nach oben aber abgegrenzt durch sogenannte Y-Abweiser, die mit mehreren Lagen Stacheldraht untereinander verspannt waren. Dadurch ergab sich ein archaisches Aussehen, was zu den ersten Mauer-Graffiti führte. Auf den groben Steinen stand meist in großen Buchstaben und mit weißer Farbe geschrieben: „KZ“, DDR=„KZ“ und „Die Mauer muss weg“.

Graffito „Diese Schande muss weg! KZ“ an der Schandmauer im Bereich der Eberswalder- / Bernauer Straße.
Foto: © Sigurd Hilkenbach (20.5.1964). Quelle: berliner-mauer.de/archiv/

Zu den ersten Writern gehörte der Arbeiter Dieter Beilig, der z.B. nach dem tragischen Ertrinkungstod des Flüchtlings Udo Düllick aus Protest an die Kaimauer der Spree im Bereich der Gröbenufer (heute May-Ayim-Ufer), gegenüber der heutigen East Side Gallery, schrieb „Von den KZ-Wärtern zu Tode gehetzt“. Generalisierend kann gesagt werden, dass bis Anfang der 80er Jahre Graffiti als Reaktion auf SED-Verbrechen an der Mauer entstanden und sich auch damit direkt in Verbindung bringen ließen.

Auch Besucher aus dem Ausland waren von Anfang an an der Beschreibung der Mauer beteiligt. Als der Amerikaner Dr. William McBirnie (Voice of Americanism) Berlin (West) und die Bernauer Straße am Nachmittag des 13. August 1965 besuchte, malte er eine überlebensgroße stilisierte Trompete auf die Sperrmauer vor der Versöhnungskirche, verbunden mit der Hoffnung, dass die Trompete, wie in Jericho, die Mauer zum Einsturz bringen wird.

Stilisierte Trompete von Dr. William McBirnie (Voice of Americanism), auf die Sperrmauer gemalt am 13. August 1965.
Quelle: berliner-mauer.de/archiv/

Nicht weit davon entfernt schrieb jemand „in tyrannos“ (Gegen die Tyrannen). Zu dieser Zeit gab es im Westen noch viele Menschen, für die der Zweite Weltkrieg nicht mit der bedingungslosen Kapitulation beendet war. Tausende junge Männer, die Hitler an die Ostfront befohlen hatte, kämpften in den sowjetischen Gulags um das nackte Überleben. Die letzten von ihnen kamen erst 1955 zurück in die Heimat und mussten jetzt in Berlin erleben, wie der Rote Terror die Demokratie terrorisierte.

Das gewaltigste Graffito schrieb der junge Polizist Lazai mit Donarit auf die Mauer. „Die Mauer der Schande muss weg“, und als in der Nacht zum 28. Mai 1962 der Sprengstoff explodierte, riß dieser ein Loch in den Beton. Von der DDR als terroristischer Anschlag auf die Staatsgrenze der DDR zu Berlin (West) bewertet, kann oder muss diese Tat als politische Aktionskunst gewertet werden. Die Sorgfalt, mit der diese Aktion durchgeführt wurde, stellte sicher, dass keine Person zu Schaden kam.

Blick von Ost nach West durch das Loch in der Mauer. Quelle: MfS-ZAIG-Fo-to 586 – Bild 70-2

Nach dem erweiterten Kunstbegriff kann jedwedes menschliches Handeln als Kunst betrachtet werden; dann auch dieser explosive Ausdruck des Missfallens über die Teilung einer Stadt. Mit der Errichtung der Mauer der dritten Generation aus vorgefertigten 3,8 Meter hohen und 1,1 Meter breiten Stahlbetonteilen, die nur auf- und aneinander gestellt werden mussten, entstand eine Mauer, die sich hervorragend eignete, beschrieben und bemalt zu werden. Sie war wie Makulatur, ein Wegwerfprodukt, grau, aber leer, unbeschrieben! Diese Mauer war nur das letzte Element feindwärts des „Antifaschistischen Schutzwalls“, bestehend aus einer bis zu 300 Meter breiten Todeszone mit weiteren stationären Sperrelementen. Innerhalb dieses statischen Raumes, der im Westen als Todeszone bezeichnet wurde, agierten mobile Sperren, z.B. Hunde. Das wichtigste Sperrelement war aber der (Grenz-)Soldat, der bei Dienstantritt mit der Formel „…. Grenzverletzer sind zu vernichten …“ vergattert wurde. Obwohl dieser „Schutzwall“ militärisches Sperrgebiet war, bewacht, beleuchtet und propagandistisch stilisiert mit der Garantie der Unverletzbarkeit der Sperranlagen, war dieses Gerassel der Säbel eine groteske Lächerlichkeit.

Der Unterbau der Mauer, ein ca. 8 Meter breiter Landstreifen ‚westlich’ vor der Mauer gehörte noch zur DDR, konnte von dieser aber unmöglich kontrolliert und bewacht werden, weil die SED sich sicher sein konnte, dass zu viele der Grenzer den Aufenthalt vor der Mauer zur Flucht benutzen würden. Im Laufe der Zeit entstand hier eine Art Niemandsland, in dem weder die Grepos noch die West-Berliner Schutzpolizei handeln durfte. Anfangs spielten sich in diesem Bereich noch die westlichen Alliierten, insbesondere die französische und die britische Schutzmacht als Mauerbeschützer auf, aber diese Allüren sollten auch Angesichts der Menschenmassen, die diesen Bereich erobern sollten, einschlafen.

Als Stephan Elsner 1982 ein ganzes Mauerfeld aus der Vorderlandmauer herausbrach, um es durch Kunst zu ersetzen, wurde er von der britischen Militärpolizei verhaftet, aber ohne weitere Folgen. Als Heiner Pudelko der Band Interzone mehrere Meter der Mauer schwarz grundierte, um mit großen weißen Lettern Interzone darauf zu schreiben, wurde er ebenfalls von der britischen Militärpolizei verhaftet, um wieder folgenlos frei gelassen zu werden. Auf der Türschwelle zu seiner Ladengalerie, die die eigentliche Staatsgrenze bildete, standen Offiziere des MfS, um den Bildhauer Peter Unsicker aufzufordern, den ordentlichen Zustand der Mauer unverzüglich wieder herzustellen. Der Künstler dachte nicht daran, bzw. hatte schlicht eine andere Definition von ‚ordentlich‘ im Hirn abgespeichert. Das MfS nahm die Ermittlung auf und stellte nüchtern fest, dass die Aktivitäten des Künstlers von Ostberlin aus nicht einsehbar waren. Also ließ man den aus Heidelberg nach Kreuzberg gezogenen Künstler jahrelang weiter an der Mauer unbehelligt werkeln.

Peter Unsickers Wall-StreetGallery in der Zimmerstr. 12, Kreuzberg, West-Berlin. Quelle: MfS-HA-I-14780 – Bild 0001

In seinen Aktionen bearbeitete der Künstler den Beton, indem er Masken oder Spiegelscherben an die Mauer klebte, oder den Schutzwall in Flammen tauchte. Die Aktion nannte er „Währungsgrenze“. Allen war aber eins gleich: Sie betraten aus West-Berlin kommend unkontrolliert und illegal Ostberlin, bzw. die Hauptstadt der DDR, um an einem schwer bewachten militärischen Objekt, dessen Art und Struktur strengster Geheimhaltung unterlag, grenzüberschreitend kunstvoll zu handeln. 8000 Soldaten lagen im Schichtdienst rund um die Uhr hinter der Mauer im Todesstreifen auf Lauer, um die, die es sich wagten, aus dem eigenen Hinterland kommend in das Grenzgebiet einzudringen, zu erschießen.
Während viele Akteure ein Mal an die Mauer kamen, um dabei gewesen zu sein, wie die Künstlerin Barbara Quandt, die mit ihrer Freundin Ute an die Vorderlandmauer ging, um Aktionskunst zu gestalten, oder Rainer Fetting, der sein Werk „Van Gogh an der Mauer“, mit Alkohol und Videotape zelebrierte, übergossen andere förmlich die Mauer, indem sie Segment nach Segment über die gesamte Höhe von 3, 8 Metern bemalten. Zu den Kilometer-Künstlern gehörten die Franzosen Christoph Bouchet und Thierry Noir und der Ostzonenflüchtling Indiano, der immerhin seinen Bildern eine romantisch-grüne Message einhauchte.

Graffito "Was wir wollen gibt es nicht zu kaufen!" an der Berliner Mauer im Bereich Waldemarstraße in Ostberlin-Mitte zum West-Berliner Stadtbezirk Kreuzberg
Graffito „Was wir wollen gibt es nicht zu kaufen!“ an der Berliner Mauer im Bereich Waldemarstraße in Ostberlin-Mitte zum West-Berliner Stadtbezirk Kreuzberg. Foto: © Ralf Gründer (1984)

Alle diese Akteure und Künstler handelten autonom, es gab keine Verabredungen; keine Projektleitung, kein Versprechen auf Entlohnung; die Berliner Mauerkunst war frei und wild!
Mit dem Fall der SED und der Öffnung der Grenze wurde aus der Todeszone ein Freizeitpark, bis auf wenige Meter der vormals 165 km Mauer alles abgerissen war. Die DDR lag im Sterben und Honeckers „die Mauer bleibt noch 100 Jahre stehen“ der Lächerlichkeit preisgegeben. Der in West-Berlin lebende Künstler Dave Monty hatte ungefähr zu diesem Zeitpunkt die Idee, eine Open-Air-Gallery auf der nach Osten weisenden Mauer zu etablieren. Auf einer Pressekonferenz in Ostberlin kündigte er sein Vorhaben an. Nach der Veröffentlichung seines Aufrufs in einer Ostberliner Zeitung meldeten sich Vertreter der DDR- und BRD-Künstlerverbände und diskutierten eine mögliche Zusammenarbeit. Das organisierte Künstlerprojekt schien an Montys Plan, die Kosten durch Werbung zu fördern, zu scheitern. Die Künstlerverbände aus Ost und West wollten keine Coca-Cola-, Marlboro- oder Jeans-Werbung zwischen ihren Bildern. Nachdem es zu Reibereien zwischen Dave Monty und seiner Sekretärin gekommen war, lies sich Christine Maclean von der WUVA einstellen, die das Kunstprojekt übernahmen. Als sich dann das werbefreie Konzept durchsetzte, nahm das Projekt seinen Lauf. Am 28. September 90 wurde die East Side Gallery feierlich eröffnet.
Im Gegensatz zur Kunst an der Berliner Mauer entstanden die Bilder an der East Side Gallery nicht illegal, nicht grenzüberschreitend, nicht an einem militärischen Sperrgebiet und absolut nichts war spontan.
Damals hieß es, dass dieser 1,3 km lange Mauerrest zwischen Oberbaumbrücke und Ostbahnhof Ende 1990 abgerissen werden soll. Die Bilder sollten nur noch für ca. 3 Monate vor Ort bleiben und dann mit den Segmenten auf eine weltweite Ausstellungstournee gehen. Das dann alles anders kam, ist eine weitere Geschichte.

Autor: Ralf Gründer, Berlin (www.berliner-mauer.de)
Datum: 7.2.2021 / 1.8.2023

Lit.:

Berliner Mauerkunst : eine Dokumentation / von Ralf Gründer. – Köln ; Weimar ; Wien : Böhlau, 2007. – 352 Seiten : überw. Ill. ; 22 cm.
ISBN 978-3-412-16106-4

Berliner Mauermalerei : ein dokumentarischer, multimedialer Spaziergang entlang der Berliner Mauer in der Zeit vor und während des Mauerfalls 1989 ; [CD-ROM] [CD-ROM]. – Berlin : Gründerzeit Verlag, [1999]. – 1 CD-ROM + 1 Beih. – Systemvoraussetzungen: Windows 95/98; 486 PC 100 MHz; 32 MB RAM, besser 112 MB; Soundkarte 16 Bit; CD-ROM-Laufwerk (double-speed); Grafikkarte 800×600 Pixel, True Color. – USK: Informationsprogramm gemäß § 14 JuSchG. ISBN 3-9806893-0-1

Video-Dokumentationen:

Graffiti und Berliner Mauerkunst I : Bernauer Straße – Die ersten Graffiti (LINK: …..)
Graffiti und Berliner Mauerkunst II : Bernauer Straße – Das Donarit-Fanal (LINK: …..)
Graffiti und Berliner Mauerkunst III : Bernauer Straße – Mauertanz, Mauerpredigt und „Diese Grenze verhinderte … (LINK: …..)

Loading